Solidarische Stadt

Langfassung und Begründung der Idee einer solidarischen Stadt

Für eine solidarische und kooperative Stadt

Inzwischen ist allen klar, dass in der Corona-Krise keine Normalität mehr gilt. Weitgehende Beschränkungen des öffentlichen Lebens, Ausgangssperren, geschlossene Grenzen, polizeiliche Verfolgung von Brüchen mit den Ausnahmeregelungen. Der Staat versucht durch einen äußeren Lockdown des öffentlichen Lebens die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, ja vielleicht zu stoppen. Jede*r Einzelne ist somit auf sich allein gestellt und von der Außenwelt weitestgehend abgeschnitten.
Doch reichen diese Maßnahmen? Müssen wir nicht überaus kritisch die Ausnahmeregelungen begutachten und hinterfragen? Sollten wir als solidarische Nachbarschaften und Stadtgesellschaft nicht weitergehende Maßnahmen ausarbeiten? Wir denken schon und wollen hier einige Punkte ansprechen, die über die staatlich verordneten Maßnahmen hinausgehen, dabei immer solidarisch ausgerichtet sind und auch zukünftige Krisen im Blick haben. Wir wollen einen Austausch zwischen unseren Nachbar*innen und Kolleg*innen anstoßen, der der gegenwärtigen Krise auch auf solidarische Weise gerecht wird.
Mit einem Aufruf an alle solidarischen Initiativen und Betriebe haben wir bereits angedeutet, dass die solidarische Nachbarschaft mehr bedeuten muss als private Hilfe zu organisieren. Wir stehen mitten in einer tiefgreifenden und multiplen gesellschaftlichen Krise. Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von privatisierter Pharma- und Gesundheitsindustrie, Wohnraumkrise, Abbau sozialer Einrichtungen, Verdrängung armer Bevölkerungsschichten, Agrarindustrie (in deren Umwelt Viren wie Corona sich ungehindert bilden können), usw. Viele gesellschaftliche Missstände der letzten Jahrzehnte müssen als Teil der aktuellen Krise betrachtet werden. Wir wissen jedoch, dass genau wie Nachbarinnen und Nachbarn, auch einzelne Initiativen und Betriebe keine gesellschaftliche Selbstorganisation und kein solidarisches Krisenmanagement leisten können. Wir wollen daher einige Forderungen und Maßnahmen vorstellen, die in der sozialen und gesundheitlichen Krise nicht die Wirtschaft retten, sondern den Schutz der Bevölkerung zur obersten Priorität erheben.
 

Sozial gerechte und kooperative Wirtschaftsplanung

Während der öffentliche Raum weitestgehend gesperrt wurde, unterliegt die wirtschaftliche Tätigkeit deutlich geringeren Beschränkungen. In Italien hat sich gezeigt, dass gerade die wirtschaftlichen Zentren die Hot-Spots der Corona-Verbreitung sind. 
 
Forderungen:
  • Verbot aller Kündigungen
  • Voller Lohn auch bei Betriebsschließungen
  • Sozialfonds für alle Menschen ohne eigenes Einkommen
Begründung: Die Lohnarbeit ist für den überwiegenden Teil der Bevölkerung die einzige Einkommensquelle. Das nötige Schließen von Betrieben darf nicht dazu führen, dass den Menschen ihr Einkommen gestrichen wird. Auch und gerade Menschen ohne eigenes Einkommen, müssen dabei berücksichtig werden und mittels eines Sozialfonds bedingungslos versorgt werden. 
 
  • Sicherheit, Gesundheit und Einkommen der Beschäftigten an erster Stelle
  • Demokratische Durchsetzung und Kontrolle von Arbeitsschutzmaßnahmen und Arbeitsbedingungen in den Betrieben und Einrichtungen durch die Belegschaft
Begründung: Die Werktätigen wissen am besten selbst, wie und in welchen Betriebsbereichen Schutzmaßnahmen mangelhaft sind. Sämtliche Bestimmungen zur Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten müssen ausnahmslos mit deren Zustimmung und unter deren Kontrolle getroffen werden.
 
  • Gesamtgesellschaftlicher Kooperationsplan unter der demokratischen Kontrolle von Arbeiter*innen und Bevölkerung
  • Stilllegung aller nicht notwendigen Wirtschaftstätigkeiten
  • Verkürzung und (je nach Branche) gerechter Ausgleich der Arbeitszeiten
  • Nutzung freier Industriekapazitäten zur Herstellung notwendiger Güter und Leistungen
Begründung: Die Versorgung der Bevölkerung wird durch marktwirtschaftliche Betriebe in vielen Branchen nur mangelhaft gewährleistet. Die Zielsetzung der wirtschaftlichen Tätigkeiten muss demnach in den sozialrelevanten Branchen (Landwirtschaft, Lebensmittel, Medizin(-technik), Gesundheit- und Pflegeleistungen, Mobilität, Wohnraum, Energie und Infrastruktur) durch demokratische Beschlüsse festgelegt werden. Die grundlegenden Bedürfnisse der lokalen wie globalen Bevölkerung haben ausnahmslos von Interesse zu sein, um die Pandemie einzudämmen und die soziale Verwerfungen zu verhindern. Planung und Umsetzung müssen dabei transparent sein, keine Entscheidung darf hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Die Planung der Produktion in den Betrieben muss dabei maßgeblich von den Werktätigen geleistet werden, da nur diese das nötige Wissen und die demokratische Zustimmung liefern können. Das finanzielle Einkommen der Einzelnen darf dabei nicht von ihrer eigenen Leistung abhängen, sonst wirken sich die auftretenden Verwerfungen während der Umstellung der Betriebe negativ auf einzelne Menschen aus. Die bedarfsorientierte Produktion muss mit einer solidarischen Grundversorgung einhergehen.
 

Wohnraum für alle

Die Corona-Krise offenbart die schon seit Jahren andauernde Krise des Wohnungsmarktes auf besondere Weise. Viele Obdachlose und Geflüchtete werden von der Polizei kontrolliert, drangsaliert und in Sammelunterkünften zusammengepfercht, während Hotels und viele zuvor über Airbnb und Co. vermietete Wohnungen ungenutzt bleiben.
 
Forderungen:
  • Sammelunterkünfte auflösen
  • Sofortige Bereitstellung von Wohnraum für Obdachlose und Geflüchtete (Hotels, Leerstand)
  • Sofortiges Verbot von Wohnungskündigungen
  • Aussetzung aller Wohnsitzauflagen
  • Aussetzung aller Mieten
Begründung: Wohnen ist Grundbedürfnis jedes Menschen.
 

Grundrecht auf Gesundheit

Das privatisierte Gesundheitssystem beweist sich in der gegenwärtigen Krise als untauglich einen effizienten Schutz der Bevölkerung vor Krankheiten zu gewährleisten. Mangelhafte Krankenhauskapazitäten, überarbeitete Pflegekräfte und Ärzt*innen, fehlende Medikamente und Gerätschaften.
 
Forderungen:
  • Kosten- und bedingungslose Gesundheitsversorgung für alle
  • Aufnahme aller Geflüchteter in die gesetzliche Pflichtversicherung
Begründung: Die Versorgung mit gesundheitlichen Gütern und Leistungen muss nach Bedarf erfolgen und kann nicht weiter am finanziellen und rechtlichen Status der Menschen festgemacht werden. Nur wenn allen Menschen gesundheitliche Versorgung gewährleistet wird, kann eine Pandemie solchen Ausmaßes gestoppt werden.
 
  • Kommunalisierung aller Krankenhäuser
  • Gesamtgesellschaftlicher Kooperationsplan zur Erhöhung der Krankenhauskapazitäten, Einstellung neuer Pflegekräfte und Ärzt*innen und Ausbau der medizinischen Produktion
  • Demokratische Durchsetzung und Kontrolle von Arbeitsschutzmaßnahmen und Arbeitsbedingungen in allen Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen durch die Belegschaft
Begründung: Wir müssen ein soziales Gesundheitssystem schaffen, in dem der Schutz der Bevölkerung gewährleistet wird und solidarische Arbeitsbedingungen vorherschen. Die Privatisierung des Gesundheitswesen muss rückgängig gemacht werden. 4000€ für alle Beschäftigten im Gesundheitssektor (u.a. Reinigungs-, und Wartungskräfte).
 

Globale Solidarität

Die europäische Außengrenze wurde in den letzten Jahren endgültig zur militärischen Festung ausgebaut. Auch die nationalen Grenzen sind spätestens seit Beginn der Corona-Krise überwiegend geschlossen. Mittelfristig ist eine Eindämmung der Pandemie auch hierzulande jedoch nur möglich, wenn keine Region der Welt im Stich gelassen wird.
 
Forderungen:
  • Grenzen auf
  • Schließung aller Sammelunterkünfte und -lager
  • Evakuierung der an den Grenzen Europas internierten oder festsitzenden Geflüchteten
  • Aufbau sichere Fluchtrouten und solidarischer Städte
  • Humanitäre Grundversorgung aller Hilfsbedürftigen
Begründung: Das Leid der fliehenden Menschen beschäftigt uns seit Jahren. Die derzeitige Lage an den Grenzen der EU ist inzwischen nochmals katastrophaler geworden und das Corona-Virus bedroht zehntausende Meschen in einer hygienisch prekären Situation. Die Auflösung, Evakuierung und sichere Unterbringung und Versorgung aller Menschen ist humanitäre Mindestanforderung. Das solidarische Engagement der Städte und Kommunen muss gestärkt werden. Alle Beschränkungen der Solidarität müssen aufgehoben werden. 
 
  • Schuldenerlass für Länder des globalen Südens durch private und öffentliche Gläubiger
  • Gesamtgesellschaftlicher Kooperationsplan aller solidarischer Städte und Kommunen zur Schaffung von Wohnraum und der Bereitstellung einer bedingungslosen Grundversorgung
  • Versorgungspläne für Güter des humanitären Bedarfs dürfen nicht an nationalen Grenzen haltmachen
Begründung: In der globalisierten Welt kann nur ein solidarischer, kooperativer und planvoller Umgang eine tiefgreifende soziale Katastrophe verhindern. Alle nationalen Sonderinteresse und Alleingänge schaden langfristig dem Wohlergehen der breiten Bevölkerung auch der reichen Staaten. Der Wohlstand der Reichen muss genutzt werden, um allen Menschen ein würdiges Leben zu garantieren und die soziale Katastrophe zu stoppen. 
 

Freiheit bewahren

Politische Freiheitsrechte und Menschenrechte sind kein bloßes lästiges Hindernis für den Infektionsschutz. Dieser darf nicht als Vorwand für einen autoritären Staatsumbau dienen.
 
  • Menschenrechte und politische Freiheitsrechte bewahren
Begründung: Die Einschränkung der sozialen Interaktion wie der räumlichen Bewegungsfreiheit sind aus epidemiologischer Sicht notwendig. Dennoch sollte allen bewusst sein, dass die repressive Durchsetzung von Ausgangsbeschränkungen durch den Staat, diesem seit Jahrzehnten unbekannte Befugnisse gewährt. Gleichzeitig werden innerhalb der EU geltende Menschenrecht wie das Grundrecht auf Asyl nun noch weiter beschnitten. Die soziale Krise darf nicht von autoritären Machthabern und Staaten genutzt werden, um ihre Macht und Befugnis auszuweiten. Auch stellt sich die Frage von Datenschutz und Persönlichkeitsrechten vor dem Hintergrund der massenhaften Auswertung von Bewegungs- und sonstigen Daten insbesondere im Zusammenhang mit den seit Jahren zu beobachtenden Tendenzen zur autoritären Staatlichkeit. 
 
  • Schutzräume für gewaltbedrohte Menschen (Frauen*, Kinder und alle andern betroffenen)
Begründung: Während der Ausgangsbeschränkungen kommt es vermehrt zu häuslicher Gewalt. Um dieser entgegenzuwirken sollte ein flächendeckendes Netz aus sozialen Einrichtungen und Schutzräumen bereitgestellt werden. Die bereits existierenden Einrichtungen müssen so weit es geht mit Ressourcen und Kapazitäten unterstützt werden.